Stadtgespräch

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Frizz: Nach dem Abitur studierten sie Architektur an der Fachhochschule Biberach.  Wie kam es zu der Entscheidung für dieses Fach?

Annette Weinreich: Tatsächlich war es zunächst eine Notlösung. Ich wollte eigentlich Musik studieren, mit den Schwerpunkten Klavier und Kirchenorgel. Leider gab es für meine Familie und mich in der Zeit des Überganges von der Schule zur Berufsausbildung ziemlich turbulente Zeiten, so dass ein solch aufwändiges und teures Studium für mich nicht mehr möglich war. Aus Trotz begann ich dann ein Chemie Studium, von dem mich aber gleich im ersten Semester ein Stammgast des Cafes, indem ich nebenher jobbte, erlöste. Es stellte sich heraus, dass er Architekt war und dringend eine Praktikantin suchte. So begann ich bei ihm zu arbeiten und stellte schnell fest, dass mir die Arbeit Spaß machte und auch lag. An den Unis konnte man erst zum Wintersemester mit dem Studium beginnen, da ich aber schnell wieder eine Aufgabe wollte, bewarb ich mich an den Hochschulen. So kam ich dann nach Biberach.

Frizz: Worauf haben Sie sich in der Architektur spezialisiert?

Annette Weinreich: In meinem Vertiefungsstudium habe ich mich auf Städtebau und Entwerfen konzentriert, heute sind wir allerdings hauptsächlich im Wohnungsbau tätig. Meine Aufgaben sind dabei Akquise und Projektentwicklung, vom Bebauungsplan bis zum Entwurf. Die klassische Umsetzung erfolgt dann durch Roberto Carnevale und Mitarbeiter*innen in unserem Büro. In den letzten Jahren haben wir uns ganz besonders auf das Bauen mit Baugemeinschaften konzentriert. Hierbei obliegt mir zusätzlich die Betreuung der Gruppen, sowie die Vorbereitung, Organisation und Moderation der Gruppentreffen.

Frizz: Sie waren nicht durchgängig in Ihrem Beruf tätig. Drei Jahre lang betrieben Sie eine Discothek in Ulm. Mussten Sie ausbrechen?

Annette Weinreich: Oh ja! Mein Berufseinstieg war nicht so glücklich. In der Zeit nach meinem Studium konnte man als Architektin noch jede Menge Jobs bekommen. Es war die Zeit nach der Wende und im Osten des Landes wurde wie wild gebaut. Das Büro, für das ich tätig war, war eines der Vorreiter in der Umstellung auf CAD. Während meiner Studienzeit gab es noch keine Zeichenprogramme an den Hochschulen, daher war ich froh, dass mir dieses Büro quasi einen Einstieg in der Praxis ermöglichte. Damals hatten wir sogar noch in Schichten, einschließlich nachts, an den Rechnern arbeiten müssen, da die Hardware plus Software so teuer waren wie ein Luxusauto. Ich bekam dann auch gleich ein größeres Sanierungsprojekt zugeteilt, das ich als frische Studienabgängerin federführend abwickeln sollte. Und das mit CAD. Knapp zwei Jahre habe ich mich damit aufgerieben, letztendlich hat dann das schlechte Büroklima und die mangelnde Rückendeckung durch meinen Chef dazu geführt, dass ich kapituliert habe. Heute würde man sagen, ich hatte ein Burnout. Die Disco hat sich ganz nebenbei ergeben.

Frizz: War diese Zeit eine Bereicherung für Sie?  Wenn ja, inwiefern?

Annette Weinreich: Auf jeden Fall. Es war eine tolle wilde Zeit, der Beginn der Techno und Housemusik. Wir waren der erste Laden in Ulm, bei dem es After-Hour-Partys gegeben hat. Wir mussten um 4 die Pforten schließen (Sperrzeitenregelung), um ab 6 wieder zu öffnen. Sie kamen von überall her zu uns. Damals mussten wir noch Platten kaufen, die gab es aber in Ulm und Umgebung weit und breit nicht. So durften wir regelmäßig nach Berlin und Amsterdam reisen, um uns mit Musik und DJ´s einzudecken.
Die allergrößte Bereicherung aus dieser Zeit ist mein Mann Frank. Ich lernte ihn bei uns in der Disco – die übrigens HIT hieß, der Eine oder Andere kennt es vielleicht noch – kennen. Wir haben inzwischen zwei erwachsene Kinder und erst vor kurzem unseren 2o jährigen Hochzeitstag gefeiert.

Frizz: Aus eigener Erfahrung wissen Sie, wie schwierig die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. Sind Sie deshalb immer noch geschäftsführender Vorstand des „Ulmer Schülerladen e.V.“?

Annette Weinreich: Bereits während der Discozeit war ich schon wieder freiberuflich als Architektin tätig. Als dann die Kinder 1996 und 1998 auf der Welt waren, wurde es immer schwieriger, da ich nur von zu Hause aus arbeiten konnte. Damals war das noch nicht so gefragt. Eine Halbtagsanstellung war inzwischen nicht mehr zu bekommen, ich wollte aber auch nicht nur Dachgauben und Garagen bauen. Um jedoch an größere Aufträge zu kommen und ernst genommen zu werden, war es deshalb unvermeidlich, ein richtiges Büro zu haben. Es ging nicht, dass ich potentielle Bauherren an Windeln, Kinderspielsachen und quengelnden Kindern vorbei, in mein Minibüro im Dachgeschoss hochlotsen musste. So trat ich die Flucht nach vorne an und eröffnete das Büro in der Söflingerstraße 205, indem wir heute noch sitzen. Auch mit Kindergarten und Grundschule war es immer noch eine Hängepartie, obwohl mich mein Mann immer unterstützte. Aber auch er musste arbeiten, von meinem Verdienst als Neugründerin hätten wir niemals unsere Familie ernähren können. So lernte ich 2002 den Schülerladen kennen. Er bot eine familienergänzende Betreuung bis sage und schreibe 19.00 Uhr an! Das war eine riesen Erleichterung für mich. Und so habe ich am eigenen Beispiel erlebt, dass eine Mutter immer nur dann gute Arbeit abliefern kann, wenn sie ihre Kinder gut betreut weiß.
Weil ich dem Schülerladen sehr viel verdanke, bin ich heute immer noch geschäftsführender Vorstand in dieser, nach wie vor qualitativ hochwertigen Einrichtung.

Frizz: Sie haben einer Flüchtlingsfamilie aus dem Kosovo geholfen nicht abgeschoben zu werden, wie kam es dazu?

Annette Weinreich: Damals war ich entsetzt über die herrschenden Abschiebemethoden. Es handelte sich dabei um den Freund meines Sohnes. Die Familie hatte 3 Kinder, alle waren super integriert. Der Mann hatte eine Arbeit, sie bekamen keinerlei staatliche Hilfen und waren bereits über 12 Jahre in Deutschland geduldet. Es leuchtete mir überhaupt nicht ein, warum diese Familie nicht hierbleiben kann. Hinzu kam noch, dass ich miterleben durfte, wie der Vater von diversen Leuten abgezockt wurde, die ihm rechtliche Hilfe in Aussicht stellten, zu guter Letzt aber überhaupt nichts taten. Ich habe mich mit ganzem Einsatz ins Zeug geworfen, zuerst die zuständigen Politiker und zuletzt die Medien eingeschaltet. Wir waren kurz davor das Kirchenasyl in Anspruch zu nehmen. Erst nachdem „Report Mainz“ und dann auch die „Landesschau“ über den Fall berichteten, gab es bei den zuständigen Behörden plötzlich ein Einsehen. Die Familie lebt heute noch in Ulm. Inzwischen sind sie auch stolze Besitzer einer Eigentumswohnung in Ulm.  Die Kinder üben einen Beruf aus, bilden sich fort oder sind in weiterführenden Schulen. Leider war das damals ein Einzelfall. Es würde mir heute besser gehen, wenn die vielen anderen Familien, die trotz Integration abgeschoben wurden, auch dieses Glück gehabt hätten.

Frizz: War dieses Ereignis die logische Konsequenz für Sie bei den Grünen einzutreten?

Annette Weinreich: Beides, sowohl die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie auch der Umgang mit der Thematik Asyl.

Frizz: Für wie wichtig halten Sie die Balance zwischen Geld verdienen und sozialem, gesellschaftlichem Engagement?

Annette Weinreich: Für mich ist das gesellschaftliche Engagement das Salz in der Suppe. Erst seit ich mich politisch und sozial engagiere, habe ich meinen Beruf so richtig lieben gelernt. Es bewahrt mich davor, einen Tunnelblick zu bekommen und einseitig zu werden. Der berühmte Blick über den Tellerrand bedeutet nicht nur räumliche Veränderung, es bedeutet auch, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Erst wenn ich sehe, wie es meinen Mitmenschen geht, welche Probleme es um mich herum gibt und womit Andere zu kämpfen haben, kann ich mithelfen, an Lösungen zu arbeiten. Und letztlich tun wir das für unsere Bauherren auch, wenn auch die Probleme beim Bauen nicht so elementar und existentiell sind. Obwohl…. für mache vielleicht schon.

Frizz: Welche Themen  liegen Ihnen als Kommunalpolitikerin besonders am Herzen?

Annette Weinreich: Für die Grüne Fraktion im Rathaus Ulm bin ich die Bau- und Wohnungspolitische Sprecherin. Die Baupolitik im Allgemeinen, von der Stadtentwicklung, über die energetische Sanierung bis zum sozialen Wohnungsbau liegt mir naturgemäß nahe.

Frizz: Gibt es ein Thema für das Sie sich im Moment besonders einsetzen?

Annette Weinreich: In der heutigen Zeit, in der leider immer mehr ein Rechtsruck in der Gesellschaft festzustellen ist, ist es mir ein Anliegen, mich  für das Verständnis für unsere Demokratie, die Freiheit, Transparenz  und Information einzusetzen. Es kann nicht sein, dass Gesinnungen, wie die der AfD nur aus Unwissenheit und Populismus dermaßen an Zuspruch gewinnen.

Frizz: Da Sie ja sehr aktiv in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, haben Sie sicher nicht immer gute  Erfahrungen damit gemacht. Wie gehen Sie mit negativer Resonanz um?

Annette Weinreich: Ich bin kein Freund von endlosen Diskussionen auf facebook. Schon gar nicht, wenn Leute nicht mit Klarnamen auftreten und ausfällig werden. Das ignoriere ich dann in der Regel. Geht es zu weit, entfreunde ich diese Kontakte. Die sozialen Medien dienen für mich dazu, Informationen und Statements abzurufen oder selbst zu posten. Kontakte zu knüpfen und, als Kommunalpolitikerin meine Haltung zu diversen Themen zu formulieren.  Ich empfinde es geradezu als eine Bereicherung, dass wir speziell mit den kommunalpolitischen Themen nicht alleine auf die regionalen Printmedien angewiesen sind.

Frizz: Bleibt bei dem was Sie alles machen denn noch Zeit für Hobbies? Wenn ja, für welche?

Annette Weinreich: Mein Alltagshobby sind unsere Hunde Drop und Tiger, zwei kleine Mischlingshunde aus Rumänien. Die fordern ganz vehement ihre Zeit, da führt kein Weg daran vorbei. Jeder von uns in der Familie hat einmal am Tag Gassidienst. Beim Gassi gehen lässt es sich auch sehr gut nachdenken.  Ein großes Hobby von meinem Mann und mir ist das Reisen. Gerne auch Übersee.

Frizz: Was gefällt Ihnen in Ulm besonders?

Annette Weinreich: Dass ich hier geboren bin, dass es meine Heimat ist und die meiner Familie.

Frizz: Welche Orte in unserer Stadt brauchen Veränderung?

Annette Weinreich: Unbedingt der Bahnhof mit dem gesamten Areal darum herum. In den nächsten Jahren passiert so viel in Ulm, dass ich jetzt erst einmal abwarten möchte, bevor ich hier neue Baustellen aufmache. Wenn uns dann mal die Ideen ausgehen, die Fußgängerzone in Ulm hätte auch mal eine Auffrischung nötig.

Frizz: Mit wem würden Sie gerne einen Tag verbringen?

Annette Weinreich: Mit Robert De Niro in New York.

Frizz: Sie haben drei Wünsche frei….?

Annette Weinreich:
1. Dass meine Familie und ich gesund bleiben
2. Das ich mit meinem Mann noch viele Reisen machen kann
3. Das ich nochmal 3 Wünsche habe

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